Evaluation trifft Kunst: Ein Gespräch über Arts-Based Methods
Maya Lefkowich im Interview
Evaluation ist eine Form der emprischen Sozialwissenschaft - entsprechend spielen wissenschaftliche Methoden eine zentrale Rolle.
Doch es gibt daneben auch kreative Ansätze, die in der Kombination mit wissenschaftlichen Methoden noch tiefergehende Reflexionen und Einsichten ermöglichen können. Maya Lefkowich, Evaluatorin und Expertin für kunstbasierte Methoden, spricht in diesem Interview mit Evelyn Funk über die Potentiale und Grenzen von kreativen Ansätzen in der Evaluation. Sie erzählt aus ihrer eigenen Praxis und gibt einige Hinweise für alle, die sich gerne inspirieren lassen und neue Wege in der Evaluation beschreiten wollen.
Evelyn Funk: Danke, Maya, dass du dir die Zeit für dieses Gespräch nimmst! Ich muss natürlich als allererstes fragen: Was sind Kunstbasierte Methoden überhaupt? Bitte gib doch mal eine kurze Einführung für Menschen wir mich, die aus der Wissenschaft kommen und weniger Berührungspunkte mit der Kunst haben.
"Durch einen spielerischen oder phantasievollen Ansatz können wir Dinge erfassen, die unter der Oberfläche liegen."
Maya Lefkowich
Maya Lefkowich: Gerne! Bei Kunstbasierten Methoden nehmen wir die Regeln einer Kunstform, also ihre Form und Funktion, und kombinieren sie mit einer Strategie zur Datenerhebung. Wenn ich beispielsweise Poesie als Kunstbasierte Methode verwende, benutze ich die Regeln rund um Sprache, also die Pausen, Stille, Rhythmus und Ton, um jemanden dazu zu bringen, mit Worten zu spielen. Ich kann ein Gedicht schreiben lassen zu einem bestimmten Stichwort wie Zugehörigkeit oder Akzeptanz, das ansonsten wenig greifbar ist. Durch diesen spielerischen oder phantasievollen Ansatz können wir Dinge erfassen, die unter der Oberfläche liegen. Während Poesie sich mit dem Rhythmus und Ton von Sprache beschäftigt, konzentrieren sich visuelle Methoden wie Fotografie oder Zeichnung eher auf Metaphern, Symbole, Farben und Formen.
Evelyn: OK, soweit komme ich mit. Was wäre denn ein konkretes Beispiel für die Anwendung einer Kunstbasierten Methode im Evaluationskontext?
Maya: Einmal habe ich mit meiner Teampartnerin ein Projekt zu geschlechtsbasierter Gewalt evaluiert. Wir haben bei der Datenerhebung zunächst die Teilnehmer*innen des Projekts und die Mitarbeiter*innen gebeten, Fotos davon zu machen, wie die ideale Beratungsleistung aus ihrer Sicht aussieht. In den darauf folgenden individuellen Interviews haben wir dann die Geschichten gehört, die zuvor metaphorisch in den Fotos festgehalten worden waren. Zum Beispiel hat ein Nutzer ein Foto von gemütlichen Gegenständen gemacht und gesagt, der ideale Service sollte erleichternd sein, warm, tröstlich und behaglich, nicht wie ein steriler Warteraum. Ein Mitarbeiter machte ein Foto von einer frisch gebackenen Zimtschnecke. Er reflektierte dann, dass der ideale Service sich so anfühlen soll wie der Moment, in dem man erleichtert ist, weil die Zimtschnecken endlich aus dem Ofen kommen, nachdem man so lange davor gestanden ist und sehnsüchtig gewartet hat. Diese Reflexionen aus den Interviews haben wir qualitativ analysiert und so die Schlüsseleigenschaften einer idealen Beratung rund um geschlechtsbasierte Gewalt herausgearbeitet.
Evelyn: Ihr habt also nicht die Fotos selbst analysiert, sondern die Reflexionen darüber, richtig?
Maya: Genau. Die Kunst spricht nicht für sich selbst; man muss immer nachfragen, was sie bedeutet. In unserem Fall half das Fotografieren den Befragten, besser zu reflektieren, was eine gute Beratung für sie bedeutet. Sie konnten etwas Kreatives produzieren und hatten dadurch genug Zeit, über die Frage nachzudenken. So gaben sie eine sehr durchdachte Antwort und keine spontane, wie es sonst typischerweise in Interviews läuft.
Evelyn: Eingangs hast du auch Poesie erwähnt als eine Kunstform, die du in deiner Evaluationspraxis verwendest. Darunter kann ich mir noch gar nichts vorstellen. Hast du dafür vielleicht auch ein Beispiel?
Maya: Ja klar. Wir haben schon häufiger Poesie genutzt, wenn bei einem Projekt ein Buzzword im Mittelpunkt steht und wir nicht genau verstehen, was damit gemeint ist – und die Projektbeteiligten möglicherweise auch nicht! In einer Evaluation hatten wir es zum Beispiel mal mit dem schönen Wort „innovativ“ zu tun. Es wurde im Projektkontext ständig genutzt. Wir haben dann ein Haiku gemacht. Haiku ist eine japanische Versform, bei der die Anzahl der verwendeten Silben vorgegeben ist: 5 Silben im ersten Vers, 7 im zweiten, und 5 im dritten. Man muss sich also sehr kurz und präzise ausdrücken. In diesem Beispiel haben es die Projektbeteiligten tatsächlich nicht geschafft, den für sie so zentralen Begriff „innovativ“ mit einem Haiku zu erklären. Diese Übung selbst war dementsprechend ein bisschen peinlich und unangenehm, aber es gab ein extrem wichtiges Aha-Erlebnis: Die Projektbeteiligten haben realisiert, dass sie den total zentralen Begriff „innovativ“ für sich selbst noch gar nicht ausreichend geklärt hatten. Entsprechend waren sie auch noch nicht bereit für die Art von Evaluation, die sie eigentlich mit uns geplant hatten. Auf Grundlage dieser Erkenntnis konnten wir unseren Evaluationansatz anpassen.
Evelyn: Das klingt total hilfreich. Aber wenn ich in meiner aktuellen Evaluation vorschlagen würde, dass wir jetzt ein Gedicht über einen zentralen Begriff schreiben, dann würden sich meine Auftraggeber*innen vermutlich schnell eine neue Evaluatorin suchen…
Maya: Ja, das wäre eine typische Reaktion. Die Menschen sind sehr zurückhaltend bei Kunstbasierten Methoden, weil sie damit keine Erfahrung haben. Wenn du eine Umfrage machen möchtest, musst du das dem Auftraggeber nicht schmackhaft machen – obwohl wir wissen, dass viele Menschen Umfragen langweilig finden und dass es mitunter sehr schwer ist, eine gute Response Rate zu bekommen. Wenn du andere von Kunstbasierten Methoden überzeugen möchtest, solltest du einfach mal mit ihnen etwas auszuprobieren. In dem Beispiel, das ich gerade genannt habe, war der Haiku ein Eisbrecher in einem kick-off-meeting. Nach der Übung konnten wir sagen: „Ist das nicht toll gelaufen? Wäre es nicht großartig, wenn wir vergleichbare Effekte auch in den Interviews mit euren Zielgruppen hätten?“ Bedenke immer, dass sich Auftraggeber*innen auch sorgen, dass sie vor anderen Projektbeteiligten dumm dastehen könnten. Sie wollen nicht, dass eine seltsame Evaluatorin reinkommt und alles in Unordnung bringt. Darum ist es so wichtig, erst mal Vertrauen aufzubauen.
Evelyn: Was würdest du denn Evaluator*innen wir mir empfehlen, die Kunstbasierte Methoden spannend finden und gerne mehr darüber erfahren möchten. Wo fangen wir am besten an?
"Oft scheitern Methoden daran, dass wir Evaluator*innen nicht wirklich an sie glauben."
Maya Lefkowich
Maya: Das Beste ist, erst einmal selbst eine Kunstbasierte Technik anzuwenden. So kannst du herausfinden, ob es dir hilft, beispielsweise eine mentale Blockade in einem Projekt zu überwinden, oder anders über ein bestimmtes Problem nachzudenken. Dann kannst du reflektieren: Hast du das gerne gemacht? Denn oft scheitern Methoden daran, dass wir Evaluator*innen nicht wirklich an sie glauben. Meine Kollegin und ich würden niemals jemanden bitten etwas zu tun, was wir nicht selbst tun würden. Zuletzt haben wir z.B. im Rahmen unserer jährlichen Strategieplanung eine Collage gemacht. Materialien waren Ausdrucke von unserer Website, Seiten aus unserem besten und schlechtesten Report, einer unserer Blogbeiträge und eine Zeitschrift. Wir haben dann reflektiert, was uns unsere Collage wohl über unsere Vision für unser Business verrät. Und daraus haben wir die wichtigsten Ziele herausgearbeitet und diese in eine Vision und eine Mission für dieses Jahr umgewandelt.
Evelyn: Das klingt wirklich machbar.
Maya: Ja, alle Evaluator*innen können das tun: Nimm etwas, was für deinen besten Moment steht, und etwas aus deinem schlechtesten. Stell einen Timer auf 5 Minuten, schau in deinen Papierkorb und zieh irgendwelche Schnipsel raus. Stell dir die Frage: Warum mache ich eigentlich Evaluation? Wer bin ich als Evaluator*in? Was erhoffe ich mir für mein nächstes Geschäftsjahr, oder was erhoffe ich mir für mein nächstes Evaluationsprojekt? Die Collage hilft dir, Antworten zu finden. Und du kannst durch diese Übung ein gutes Gefühl dafür entwickeln, ob dir die Methode selbst gefällt. Wenn du es nicht magst, wirfst du es einfach in den Müll. Vielleicht versuchst du dann noch etwas anderes. Aber weder deine Kolleg*innen noch deine Kund*innen werden davon erfahren.
Evelyn: Mir selbst fehlt oft das kreative Selbstvertrauen, das man für so eine Übung braucht. Manchmal schaue ich auf meine Kinder und bin total fasziniert davon, dass sie keine Angst haben, etwas zu produzieren, was nicht schön ist.
"Die Leute können mir ihre Ergebnisse zeigen, aber sie müssen nicht. Sie können im Interview drüber sprechen, müssen es aber nicht. Wir signalisieren an ganz vielen Stellen, dass wir die Kunst nicht beurteilen. Das Wichtigste ist, dass du ein Gespräch geführt hast, das du sonst nicht geführt hättest."
Maya Lefkowich
Maya: Ja, das ist bei Kunstbasierten Methoden eine große Herausforderung: Viele Menschen haben Angst davor, albern auszusehen. Wir arbeiten darum immer mit Zeitlimits. Für Zeichnungen und Poesie-Übungen geben wir 5 Minuten. Bei einer Foto-Übung gehst du einmal um den Block, und wenn du zurückkommst, hast du ein Foto. Bei längeren Formen der Poesie geben wir ein bisschen mehr Zeit, aber nie wirklich viel. Und wir zeigen gerne ein Beispiel für schreckliche Kunst, damit die Erwartungen ganz niedrig sind. Wenn wir eine Zeichenübung machen, zeichne ich vorher etwas Grauenhaftes. Wenn es um Fotos geht, zeige ich ein Beispiel, bei dem mein Daumen über der Linse liegt oder das Motiv total verschwommen ist. Wenn wir mit Poesie arbeiten, versichern wir den Leuten, dass wir nicht nach einem Nobelpreis für Poesie suchen. Nein, es geht einfach darum, Worte auf eine Seite zu bringen. Mit den Ergebnissen gehen wir sensibel um. Die Leute können mir ihre Ergebnisse zeigen, aber sie müssen nicht. Sie können im Interview drüber sprechen, müssen es aber nicht. Wir signalisieren an ganz vielen Stellen, dass wir die Kunst nicht beurteilen. Das Wichtigste ist, dass du ein Gespräch geführt hast, das du sonst nicht geführt hättest.
Evelyn: Neben dem eigenen Ausprobieren, kannst du noch ein paar Ressourcen empfehlen?
Maya: Gerne! Ich habe ein paar Blogposts zu dem Thema geschrieben. Außerdem gebe ich einmal pro Jahr gemeinsam mit meiner Kollegin Jennica einen Einführungskurs, bei dem wir ein bisschen Theorie machen und ansonsten sehr viel Raum zum Üben geben. Denn das Üben ist das Allerwichtigste. Es gibt keine Abkürzungen, wenn man Kunstbasierte Methoden lernen möchte. Außerdem waren meine Kollegin Jennica und ich gerade zu Gast im Podcast "Indigeneous Insights" von Gladys Rowe, die ebenfalls kunstbasiert evaluiert. Die komplette zweite Staffel dreht sich um Kunstbasierte Methoden!
Evelyn: Maya, zum Abschluss möchte ich dich noch etwas Persönliches fragen: Wo kommt eigentlich deine persönliche Inspiration her? Du hast einen Master in Health Promotion gemacht und danach promoviert – hast dich also erst mal weit weg von Kunst bewegt. Wie hast du von da aus die Kunstbasierten Methoden gefunden – oder haben sie dich gefunden?
Maya: Neben meiner wissenschaftlichen Ausbildung bin ich auch Künstlerin. Mein Vater ist Musiker, meine Mutter ist bildende Künstlerin, und meine Schwester ist Schriftstellerin. In meiner Familie war es sehr normal, dass es viele Möglichkeiten gibt, sich auszudrücken. Wenn ich etwas zu sagen hatte, konnte ich es sagen, ich konnte es aber auch zeichnen, darüber singen, ein Theaterstück daraus machen. An der Universität habe ich dann gelernt: "Du brauchst die Statistiken, sonst nimmt dich niemand ernst, und deine Ergebnisse zählen nichts." So habe ich an der Uni erst einmal viele Kreativtechniken verlernt. Und dann, als ich Kunstbasierte Forschung entdeckte, hatte ich diesen Aha-Moment: „Schau an, du kannst ja beides machen. Ich bin nicht verrückt, sondern it’s a thing!“
Evelyn: Da hast du ja zwei Welten kennengelernt: Die Kopflastige, rationale, der Wissenschaft, und die intuitive, spielerische der Kunst. Es ist bestimmt nicht einfach, diese miteinander in Einklang zu bringen.
Maya: Meine Geschäftspartnerin Jennica ist eine klassisch ausgebildete Biologin und Epidemiologin. Sie kommt also aus der Zahlenwelt. Gemeinsam erforschen wir seit fünf Jahren, wie wir die Kunstbasierten Methoden auch Menschen zugänglich machen können, die von Kunst eingeschüchtert sind oder sie als unnötig und nicht so rigoros und wichtig, wie die harten Wissenschaften es empfinden. So haben wir viele Kunstbasierte Forschungsmethoden pilotiert und mit ihnen im Evaluationskontext experimentiert. Am Ende haben wir Strategien entwickelt, die immer funktionieren, egal ob du eine Jennica bist oder eine Maya.
Evelyn: Ich glaube, in der Evaluation sind wir alle eher Jennicas. Aber du hast uns einen tollen Einblick in Kunstbasierte Methoden gegeben – ich bin mir sicher, dass viele Kolleg*innen auch im deutschsprachigen Raum jetzt sehr interessiert sind und das selbst ausprobieren möchten. Ich danke dir für das Interview!
Maya: Ich danke dir für die Einladung!
Für noch mehr Inspiration:
- Blogbeiträge von Maya zu kunstbasierten Methoden
- Podcast "Indigeneous Insights" mit Gladys Rowe, Folge S02E02 mit Maya und Jennica
- Kurs "Arts-Based Methods for Beginners"
Ich bin begeistert! Es freut mich enorm, dass ich euch einander vorstellen konnte und daraus ein so inspirierender Blog-Beitrag wurde. Gerade in der deutschen Evaluationsszene können wir mehr Lockerheit und Kreativität gut brauchen – nicht nur, weil so die Arbeit mehr Spaß macht, sondern auch, weil oft bessere Daten rauskommen…
Den Haiku-Effekt, den Maya beschreibt, habe ich übrigens auch bei der Erstellung von ‘visual reports’ erlebt. Visual Reports sind kurze, grafische Berichte – ein Format, dass mich zwingt, die allerwichtigsten Kernbotschaften herauszudestillieren und sie so auch Menschen zugänglich zu machen, die nichtmal einen dreiseitige Text-Zusammenfassung lesen.
Das war eine fantastische Idee von dir, liebe Michaela, Maya und mich miteinander zu vernetzen! Wäre es nicht toll, wenn sie mal für einen Workshop oder eine kleine Workshop-Reihe nach Deutschland kommen könnte…?
Derweil können wir ja schon mal, inspiriert von ihrem Input, hier und da ein bisschen mehr Lockerheit und Kreativität in unsere Evaluationspraxis einbringen. Wenn ich mal Haiku-Erfahrung gesammelt habe, werde ich bestimmt wieder darüber bloggen! 🙂